Titel
The Romanov Empire and Nationalism. Essays in the Methodology of Historical Research


Autor(en)
Miller, Alexei
Erschienen
Anzahl Seiten
242 S.
Preis
$ 39.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexis Hofmeister, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Das seit der Epochenschwelle der 1990er-Jahre stetig zunehmende historiographische Interesse an Aufstieg und Fall multiethnischer Reiche verdankt sich nicht allein dem Ende Jugoslawiens und der Sowjetunion. Der ökonomische Aufstieg Chinas besaß dafür ebenso große Bedeutung wie die bereits vorher einsetzende Delegitimierung teleologischer Geschichtsnarrative, die von einer unifizierenden Moderne ausgingen. Der „imperial turn“ vermochte gleichermaßen von der verstärkten Aufmerksamkeit für lokale Konfliktlagen wie von der Konjunktur makrohistorischer, etwa geopolitischer Erklärungsansätze, zu profitieren.1 Während Beispiele aus der Geschichte des Romanow-Imperiums neueren Darstellungen der Globalgeschichte vor allem als Illustration dienen, erhellt die von Alexei Miller 2006 zunächst russisch vorgelegte Essaysammlung die russländische Geschichte aus der doppelten Perspektive der vergleichenden Imperien- und Nationalismusforschung einerseits sowie der Sicht einer dezentrierten Imperialgeschichte andererseits.2 Der an der Central European University in Budapest lehrende Miller geht davon aus, dass die Begriffe der zeitgenössischen postimperialen Epoche nur partiell zu einer Beschreibung imperialer Konfliktlagen taugen. Dies zeige sich bedauerlicherweise in besonderem Maße in den Historiographien des postsowjetischen Russland sowie der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, in denen antiimperiale nationale Narrative vorherrschten. Miller begrüßt dagegen, dass das Russische Reich in der westlichen Forschung inzwischen immer weniger als Prototyp der orientalischen Despotie oder als Musterbeispiel fortschrittsresistenter Landimperien figuriere. Die konzeptionelle Trennung von Übersee- und Kontinentalimperien sei heute nahezu überwunden, weil die „imperial studies“ einen ausreichend flexiblen theoretischen Rahmen für die Diskussion gemeinsamer aber auch trennender imperialer Phänomene böten (S. 31-33).

Das Russische Reich habe es ebenso wie das Habsburger- und Hohenzollernreich im Laufe des 19. Jahrhunderts vermocht, sich partiell erfolgreich zu modernisieren. Dies gelte selbst für das Osmanische Reich, wenn auch mit größeren Abstrichen. Diese Sicht erlaubt es Miller, den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg (ost)europäischer Nationalismen als Variable des imperialen Makrosystems der vier genannten Reiche zu deuten (S. 20-27). Beiträge der „post-colonial-studies“ bzw. „subaltern-studies“ zur Imperienforschung werden dagegen kaum berücksichtigt. Auch zur Frage der Übertragbarkeit des für klassische Überseeimperien wie Großbritannien bedeutsamen Konzepts des Kolonialismus äußert sich Miller nicht eindeutig. Der Autor tritt als äußerst umsichtig argumentierender Vertreter einer kritischen Revision der Geschichtsschreibung zum Russischen Reich auf, der jegliche ideologische Vorannahmen aber auch historiographische Großtheorien meidet. Er verfolgt einen ebenso akteursbezogenen wie kontextorientierten Ansatz, wobei er das Konzept der „imperialen Situation“ favorisiert. Das klassische dichotomische Zentrum-Peripherie-Schema wird dabei zugunsten einer multifaktoriellen Perspektive erweitert, die den Blick auf die situationsabhängig und oft ambivalent handelnden Akteure freigibt. Miller zeigt, dass ein situationeller Zugriff sich durch mehrere Vorteile auszeichnet. Er erlaubt erstens die detaillierte historische Berücksichtigung mehrerer regionaler Akteure zu einem gegebenen Zeitpunkt und gibt beispielsweise den Blick auf die Interaktion von deutschbaltischem Adel, der estnisch oder lettischsprachigen Landbevölkerung sowie der örtlichen und zentralen Verwaltung frei. Er ermöglicht zweitens die differenzierende Betrachtung dieser keineswegs homogenen Akteursgruppen. Drittens lässt sich dabei der historische Wandel der Beziehungen zwischen verschiedenen Akteuren nachzeichnen. Und schließlich werden diese Beziehungen im Kontext des imperialen Makrosystems betrachtet. Dies betrifft vor allem ethnische Gruppen, deren Vertreter beiderseits der Grenzen des Russischen Reiches lebten.

Nachdem im ersten Kapitel die konzeptionellen Voraussetzungen der Herangehensweise ausführlich diskutiert werden, verdeutlichen die weiteren Kapitel den situationellen Zugriff. Das dabei zugrunde liegende Quellenmaterial stammt aus der Geschichte der Konfrontation und der Kooperation zwischen der zarischen Verwaltung und den regionalen Akteursgruppen in den westlichen, vor allem von Polen-Litauen erworbenen Gouvernements des Russischen Reiches. Vereinfacht gesagt beschreibt Miller Loyalitätskonflikte im Gravitationsfeld zweier Pole: antiimperialer Polonität und russischer Imperialität. Die in Kapitel Zwei behandelte Alternative „Russification or Russifications?“ versteht sich als rhetorische Frage (S. 45-65). Bereits die wenig komplexe Unterscheidung zwischen Assimilation und Akkulturation nichtrussischer Kulturen demonstriert die Vorzüge des situationellen Zugangs. Die Motive eines Individuums, das die russische Sprache im privaten wie im öffentlichen Gebrauch übernahm sowie seinen Kindern eine entsprechende Bildung vermittelte, müssen nicht mit den Absichten der zarischen Schulpolitik vor Ort konform gegangen sein. Einem symbolischen, gleichwohl aber identitätsstiftenden Aspekt imperialer Sprachpolitik ist das Kapitel gewidmet, welches das Ringen um die Gestalt der Alphabete der nichtrussischen Sprachen im Russischen Reich sowie in der Sowjetunion thematisiert (S. 67-92). Während im Falle des Litauischen die „Russifizierung von oben“ mittels kyrillischer Buchstaben (1856-1904) misslang, bestätigte das offizielle Verbot der „polnischen“ Latinica im Jahr 1859 aus Millers Sicht lediglich die ideologische Entscheidung der ukrainischen Nationalisten, Ukrainisch mit kyrillischen Lettern zu schreiben. Im weißrussischen Fall kam es zu einer Koexistenz beider Alphabete, bei quantitativer Dominanz der Kyrilliza. Die Beharrungskraft der lateinischen Schrift im weißrussischen Fall begründet Miller mit der im Unterschied zu den Ukrainern signifikanten katholischen Minderheit. In „The Romanov Empire and the Jews“, dem vierten Kapitel, zeichnet Miller den Wandel der politischen Maximen im Umgang mit der durch die polnischen Teilungen „erworbenen“ jüdischen Bevölkerung nach (S. 93-137). Konsequent ordnet er dabei die „jüdische Frage“ in den politischen Kontext der imperialen Herrschaft über die westlichen Grenzprovinzen sowie die Haltung der angrenzenden Imperien zu ihren jüdischen Untertanen ein. Miller vernachlässigt allerdings innerjüdische Debatten sowie die Haltung der russländischen Öffentlichkeit.3 Dafür gelingt es ihm, aus dem Vergleich zwischen dem Umgang mit den mittelasiatischen bzw. kaukasischen Juden sowie ihren Glaubensbrüdern in den westlichen Gouvernements neue Einsichten zu gewinnen. Miller rehabilitiert nicht die zarische Judenpolitik, er historisiert und kontextualisiert sie. Allerdings bleibt hier das Profil der beteiligten Akteure unscharf, so dass der situationelle Zugriff seine Wirkung nicht entfalten kann.

Die stärkste Anregung für künftige Untersuchungen gibt Miller in den drei abschließenden Essays zum russischen Nationalismus im imperialen Kontext. Der Erkenntnisgewinn besteht hierbei in einer Bewusstseinsschärfung für die spezifische Bürde der sich überlagernden Ansprüche russischer, allrussischer, großrussischer und imperialer Nationalismen im Zarenreich. Ausgehend von einer Konturierung der politischen Handlungsräume der zarischen Bürokratie zur Zeit der Herrschaft Nikolaus I. (1825-1855) rückt Miller Sergei S. Uwarow (1785-1855) und seine viel zitierte Maxime „Orthodoxie, Autokratie, Nationalität“ ins rechte Licht (S. 139-159). Uwarow erscheint bei Miller als origineller Nationalist, der den Vergleich mit Michail N. Katkow (1818-1887), dem wortgewandten Vordenker eines großrussischen Nationalismus, nicht zu scheuen braucht. Im Folgenden wird die Beziehung zwischen einem als russisch vorgestellten geographischen und mentalen Raum sowie der imperialen Politik des ausgehenden Zarenreiches behandelt (S. 161-179). Die Sicht imperialer Bürokraten auf die Ukrainer Galiziens wird am Beispiel mehrerer Memoranden der im Ersten Weltkrieg geschaffenen „Besonderen Politischen Abteilung“ des Außenministeriums geschildert (S. 181-210). Hierbei greift Miller über das Ende des Zarenreiches hinaus, wenn er die Diskussionen zur „ukrainischen Frage“ im russischen Exil skizziert. In der Schlussbemerkung äußert sich Miller skeptisch gegenüber angenommenen Kontinuitäten zwischen imperialen Funktionen der Ethnographie im späten Zarenreich und der frühen Sowjetunion (S. 211-216). Das imperiale Projekt der Sowjets unterschied sich dafür zu radikal von seinem Vorgänger. Davon unabhängig habe die Forschung nach dem Ende der Sowjetunion es nun mit parallelen imperialen Sedimentierungen zu tun. Dies gelte für die institutionelle Sphäre, Gruppenidentitäten sowie mentale Geographien. Allgemein geht es Miller bei seinen Überlegungen nicht darum, ein Theorieangebot zu entwickeln. Eher kann man seine Texte als Aufforderung zum konzeptionellen Dialog zwischen Nationalismus- und Imperiumsforschung sowie westlichen und postsowjetischen Historikern verstehen.4 Seine Fragen eröffnen Nationalismus- wie Imperiumsforschung in Ost wie West neue Einsichten in bekannte Probleme.

Anmerkungen:
1 Eine kritische Übersicht zur neueren Forschung in: Ilya Gerasimov / Jan Kusber / Alexander Semyonov (Hrsg.), Empire Speaks Out. Languages of Rationalization and Self-Description in the Russian Empire, Leiden 2009, S. 10-17.
2 Christopher A. Bayly, The Birth of the Modern World. 1780–1914. Global Connections and Comparisons, Malden, Mass. 2004, dazu: Sebastian Conrad, Rezension, in: H-Soz-u-Kult, 20.10.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-047> (26.03.2010); John Darwin, After Tamerlane. The Global History of Empire since 1405, London 2008, dazu: Jürgen Osterhammel, Rezension, in: H-Soz-u-Kult, 22.01.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-058> (26.03.2010); Alexej Miller, Imperija Romanovych i nacionalizm. Esse po metodologii istoričeskogo issledovanija [Das Reich der Romanovs und der Nationalismus. Essays zur Methodologie historischer Forschung], Moskau 2006.
3 Dazu: John D. Klier, Imperial Russia’s Jewish Question 1855-1881, Cambridge 1995; Benjamin Nathans, Beyond the Pale. The Jewish Encounter with Late Imperial Russia, Berkeley 2002.
4 Nationalismus- und Imperiumsforschung beispielhaft integrierend: Jörn Leonhard / Ulrike von Hirschhausen, Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2003.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch